Die alltägliche Verlorenheit

"Am einen Ende des Kontinuums, fast als eine "Vorstufe" zum Gewahrsein, ist der Aspekt, der oft als waches Schlafen beschrieben wird. Das ist der Zustand, in dem wir die meiste Zeit über leben, obwohl wir uns dessen nicht bewusst sein, wie tief wir eigentlich schlafen. Das stärkste Kennzeichen dieses Zustands des wachen Schlafens ist unsere Identifikation, unser Verlorensein, in buchstäblich allem - unseren Gedanken, Wünschen, Emotionen, Aktivitäten, usw. Im Besonderen sind wir fast immer von unseren Gedanken abhängig und halten unsere Gedanken und Meinungen für "Die Wahrheit". Zudem können wir kaum unsere Gefühle kontrollieren; in der Tat lieben wir es, uns darin zu verlieren. Am schwersten wiegt aber wohl, dass wir noch nicht einmal für einige Sekunden im gegenwärtigen Augenblick verweilen können. In Wirklichkeit ist das der Ort, vor dem wir am ehesten flüchten. Deshalb wissen wir kaum, wer wir sind und was wir tun - und wenn, dann nur in einer sehr engen und befangenen Wahrnehmung unserer selbst. Darin gibt es keine Präsenz oder Klarheit: In gewisser Weise leben wir vor allem als Schlafwandelnde."

Ezra Bayda, Zen Herz, Freiburg 2011, S 116