Die Bewegung des Geistes

Michael Eggert:

Über Massimo Scaligero ist bei den Egoisten umfassend berichtet worden- auch von den dunklen Seiten, die von Anthroposophen viele Jahre verschwiegen oder beschönigt worden sind, obwohl er sehr selten aus dem Italienischen übersetzt und offensichtlich - was die Verfügbarkeit seiner Bücher betrifft - noch sehr viel weniger gelesen wurde und wird. Scaligeros faschistische Vergangenheit vor 1945 führt auf der anderen Seite dazu, dass selbst die, die ihn noch in seinen Büchern nach 1945 zu zitieren wagen, von linker Seite gerne und häufig als faschistisch denunziert werden. Scaligero ist also ein fortdauerndes Tabu- Thema. Dazu kommt, dass seine erkenntnistheoretischen Arbeiten ungemein schwer zugänglich sind, da sie auch inhaltlich sehr anspruchsvoll sind. Bis auf Georg Kühlewind beruft sich kaum ein Denker - schon gar nicht aus dem anthroposophischen Umfeld- auf Scaligero, und selbst Kühlewind hat keine erkennbaren Spuren, keine literarische Nachfolge hinterlassen. Schließlich besteht noch das für mich aufgrund von Übersetzungs- und Verständnis-Schwierigkeiten schwer auslotbare Problem, dass Scaligero heute offenbar von italienischen Autoren weniger als Denker, sondern als Stichwortgeber für esoterische Spekulationen ausgebeutet und umgedeutet, und in kaum passende Zusammenhänge hinein gestellt zu werden scheint. Es ist also denkbar schwierig, wenn nicht unmöglich, ihm eine Widmung zukommen zu lassen, die den Kern seiner überhaupt zu diskutierenden Intentionen frei legt. Er ist aber einer der sehr raren Denker, denen es überhaupt gelungen ist, selbständig zu einer Verbindung des Rationalen zu einer modernen Denkmystik im Sinne meditativer Erfahrung zu kommen, und diese umfassend zu formulieren, ohne im geringsten ins spekulative Feld abzugleiten.
Daher sei an dieser Stelle, so unbequem es ist, an sein "Traktat über die unsterbliche Liebe" erinnert, dessen Ansatz vielleicht in den Sätzen anklingt (S. 259)

"Das wahre Denken ist nicht dialektisch, sondern der bewegende Impuls des Denkens, noch bevor es dialektisch ist: eine Bewegung, die von der Rationalität nicht erkannt wird, obwohl es sich um ihre eigene Quelle handelt.

Die Dialektik ist das Denken, das eingekleidet ist in Worte. Wird es gewissermaßen nackt erfahren - entblößt von allen Worten-, dann ist es nicht mehr Dialektik, sondern eine Bewegung des Geistes. Dies zu erreichen, ist die Aufgabe der Meditation."

Dies ist zweifellos auch eine johanneische (1;5) Meditation ("Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen"), wie auch selbst eine Anleitung zur modernen Denk-Meditation. Das ganze Buch kreist um die Erfahrung und die Zugänglichkeit einer inneren, bewussten Emanzipation- insbesondere im Zusammenhang mit dem Eros und allem, was Scaligero als die Gefahren eines zeitgenössischen "intelligenten Automaten" ansah, "der präzise, sozial, sogar religiös ist, und doch ein Automat: ein wissenschaftlicher, ein spiritueller, ein mystischer Automat, dem alles bewusst ist, nur nicht die eigene Aktivität sowie die innere Quelle, der sie entspringt." (S. 257)

Auch Anthroposophen und Leser dieses Blogs haben immer wieder geäußert, dass sie Scaligero als "redundant" ansehen- oder dass sie nicht einsehen, warum sie ihn angesichts seiner Vergangenheit aus dem Giftschrank nehmen sollten. Aber ich denke, dass ein Denker, der so offensichtlich, nachvollziehbar und offensiv um innere Freiheit gerungen hat, die ihm gebührende Aufmerksamkeit verdient hat.