Wilfrid Jaensch: Das Wesen der Güte

Lassen wir jetzt den Quatsch, mit dem wir das Jahr begonnen haben, und gehen wir zu einem der wenigen lebenden Anthroposophen über, der sich natürlich nie so bezeichnen oder charakterisieren würde, selbstverständlich. Also Jaensch. Das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe (also bis auf einige Ausnahmen), ist das bei Möllmann erschienene Spitta- Jaensch- Dialog- Buch, das die wunderbare Zeit der 70er ausleuchtet, in denen alles möglich schien, dann einen vielleicht etwas orthodox denkenden, aber überaus wachen und aktiven Anthroposophen Spitta und dann diesen unmöglichen Jaensch. Der Verlag schreibt - um genau zu sein, Heinz Zimmermann - ganz richtig dazu:

"Dieser Briefwechsel ist ein bewegendes Zeugnis einer freundschaftlichen geistigen Auseinandersetzung. Hier der etablierte Anthroposoph, der in seinem bedeutend jüngeren Zeitgenossen die geistige Potenz wahrnimmt und anerkennt, mit bohrenden Fragen ihn zu immer weiteren Ausführungen veranlasst, ihn – ohne Erfolg – zum Beitritt in die Anthroposophische Gesellschaft anregt, zuweilen allzu radikale Äußerungen über Rudolf Steiner bedauert und zurückweist. Dort der autonome Individualist, der kompromisslos seinen Weg geht, sich um keine äußeren Konventionen kümmert und doch bei aller Ehrlichkeit immer respektvoll ist; ja, der Leser wird im Untergrund einer bedingungslosen Liebefähigkeit gewahr. Dieser Briefwechsel ist das Zeugnis eines kultivierten Geistgesprächs, in dem jeder sich selbst treu bleibt und doch hingebungsvoll auf des andern Ansichten und Anliegen eingeht."

Aber Wilfrid Jaensch hat auch ein kleines, geheimes Blog, auf dem er gelegentlich höchst konkrete, gelegentlich kryptische Bilder und Texte, manchmal Gedichte veröffentlicht- "geheim" deshalb, weil man keine Informationen zur Person erhält.

Über Marija, das Wesen der Güte und den Blick ins Gegenüber, wenn das Gegenüber zur Mitte geworden ist, erfahren wir folgendes:

"Wir setzten beim Abendbrot. Marija erzählt, was heute in ihrer Kindergruppe geschehen ist. Ich geniesse den Anblick ihrer gütigen Augen, ich lausche auf den fast singenden Tone ihrer Stimme, aber ich verstehe kein einzelnes Wort. Der Anblick einer dunklen Brotscheibe lässt mich versinken wie in einen tiefen Brunnen. Marija sagt: „Du hörst gar nicht zu“. Ich erwache aus meinem Tagtraum und sehe in Marija‘s Augen, dass Marija`s Augen etwas Anderes sehen, etwas, das ihr jetzt gegenüber steht, und sei es auch nur als Bild der Erinnerung: Marija‘s Augen sehen ein ganz bestimmtes Kind, mit dem sie zugange war. Oder ein Tier. Eine Pflanze, oder gar einen Gegenstand ihres Kunsthandwerks. Und schon befinde ich mich in der zweite Sekunde: Marija‘s gütiger Blick auf das Kind bildet eine Brücke, und das Wesen der Güte verlässt die offene Tür und geht über die Brücke des Blickes (oder auch der Stimme) zum Gegenüber, also zum Kind, zum Tier, zur Pflanze. Aber Kind, Tier, Pflanze sind jetzt nicht mehr „gegenüber“, sondern Mitte. Denn das Wesen der Güte umkreist das Gegenüber und umhüllt es mit Bewunderung und Zärtlichkeit. 
Ich weiss natürlich, dass diese zweite Seh-Kunde bereits vergangen ist, da sie während des Tages stattfand, und Marija‘s Erzählung ist nur eine Erinnerung, denn während wir sprechen, liegt das Kind bereits in tiefen Schlaf bei seinen Eltern. Zufällig weiss ich aber auch, dass die zweite Sehkunde im Schlaf nicht endet, sondern eigentlich erst beginnt. Denn alles, was während des Tages erlebt + erfahren wird, - im Tiefschlaf wird es wiederholt und verarbeitet, und zwar wörtlich: das Wesen der Güte ist keine Umhüllung mehr, sondern es verhüllt sich ins Innere des schlafenden Leibes + arbeitet an Muskel und Organen. Am nächsten Morgen, wenn das Kind erwacht, ist es gewachsen, nach Innen gewachsen: von Güte durchwachsen. 
Im Leib dieses Kindes geht das Wesen der Güte durch dessen Lebenslauf über die Erde und vervielfältigt sich dabei wie alles Lebendiges. Aber das ist bereits die dritte Sekunde."