The Chosen One & die kollektive Aufmerksamkeitsstörung

Dieses Zitat* aus der Crowley- Biografie beschäftigt mich weiter, weil die Formulierung so grundsätzlich ist in der sprirituellen Entwicklung, gewissermaßen das Grundproblem: "The one really important thing is the fundamental hypothesis: I am the Chosen One."

Crowley selbst, der ja bereits reichlich Begabungen in seinem Leben entfaltet hatte - als begnadeter Bergsteiger, als Intellektueller, als für beide Geschlechter anziehender Liebhaber, als in gewisser Weise anerkannter Dichter - hat das, was ihm vom Schicksal zufiel, nicht befriedigt. Sein Anspruch zielte auf Höheres- er hatte das Begehren, alle zeitlich begrenzte Fütterung seines Egos zu überspringen durch eine spirituelle Anerkennung; er hatte diesbezüglich einen Hunger, der nicht zu stillen war.

Nun ist das die Ausgangslage für viele spirituelle Karrieren - wenn auch vielleicht nicht in diesem Extrem. Meist geht es in irgend einer Form um "Selbstverwirklichung", ob es sich dabei um die klassische "Erleuchtung" oder um die Beschäftigung mit Anthroposophie handelt. Meist möchte man die edle Seite seiner eigenen Natur, seine geistige, seine "höhere" Seite "verwirklicht" sehen oder - im Idealfall - durch spezifische meditative Methoden in irgend einer Weise in Kontakt mit seinem "höheren Selbst" oder "geistigen Wesen" treten. Die Gefahren sind durchaus bekannt, und in vielen methodischen Wegen wird die Beschäftigung mit dem "Schatten" thematisiert; vielleicht wird auch auf ausreichende "Erdung" geachtet oder sogar darauf hingewiesen, dass die angebliche "evolutionäre Vollendung" auch einer Realisierung in der Welt (im sozialen Kontext) bedürfe. Meist wird aber einfach behauptet, die Evolution im Sinne einer spirituellen Vollendung werde "die Erde" automatisch - quasi in Folge - ebenfalls vollenden. Rudolf Steiner selbst hat Anfang des letzten Jahrhunderts noch sagen dürfen, die Beschäftigung mit Anthroposophie selbst - also das reine Aufnehmen und intellektuelle Mitvollziehen - werde zumindest karmisch Folgen zeigen, die eine vorwärts führende Entwicklung in der Zukunft anregen würde. Das hat viele Anthroposophen bis heute beruhigt, da sie die quasi automatische Wandlung durch buchstabengetreue Aufnahme von Steiners Werk als spirituell wirksam erachten.

Aber in den letzten 100 Jahren hat die Korrumpierung des Ich allein durch die Veränderungen in der Umgebung extrem zugenommen. Die Denk- eigentlich Willenslähmung - ist durch die Informationsgesellschaft (Internet), durch TV- Konsum, Radio, Werbung usw in einem exponentiellen Maß gewachsen, die Begierden werden kollektiv durch gezielte Kampagnen gezüchtet, die Sexualisierung ist allgegenwärtig überall in der Umgebung sichtbar, in Werbeplakaten und entsprechenden Moden, die bereits in der Kindheit ihre Wirkung nicht verfehlen. Eine Folge ist eine immer weiter verfrühte Pubertät. Auch die Ernährungsgewohnheiten in den reichen Staaten (extremer Fleischkonsum, synthetische und entfremdete Geschmacksstoffe, stetig wachsende und früh zugeführte Zuckergaben in nie gekanntem Maß) führen nicht nur zu einer kollektiven Verfettung, sondern auch zu einer extremen Bindung an die und Identifikation mit der physischen Leiblichkeit. Es geht mir hier keinesfalls um moralisierende Überheblichkeit, sondern um die Feststellung, dass 100 Jahre nach Steiner eine leibliche Bannung, eine Identifikation mit kollektiven Moden, ein maximal enzyklopädisches Wissen in universellen Fragmenten und in Echtzeit zur normalen Ausstattung des Ich geworden sind. Man hat heute in der Grundschule nicht selten Persönlichkeiten sitzen, die ganz erstaunlich "fertig" wirken, mit einer Diskrepanz zwischen formulierten Ansprüchen und hinterher hinkender emotionaler Reife. Das Fertigsein bedeutet eine früh fixierte Identität, die ihre "Selbstverwirklichung" in immer weiter wachsenden Ansprüchen sucht, womöglich auch in spiritueller Hinsicht. Der Anspruch, der "Chosen One" zu sein, ist in der Kindheit angekommen.

In der medialisierten Welt mit ihrer Daueranregung wird die Willensschwäche im Sinne eines "Aufmerksamkeitsdefizits" zur kollektiven Norm. Viele Lehrer unterrichten heute schon in Viertelstundenblöcken, weil im TV in diesem Rhythmus die Werbeunterbrechungen einsetzen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass "spirituelle Dienstleister" die Willensschwäche in Kalkül ziehen und "Erleuchtung" zur Serviceleistung im erweiterten Segment verkommt. Ein neuer, längst abgelegt geglaubter Guruismus ist allgegenwärtig. Auch in der Anthroposophischen Bewegung treten Phänomene wie Judith von Halle auf, die ihren Jüngern eine leicht konsumierbare Kost servieren, um den spirituellen Hunger ohne Anstrengung und Eigenleistung zu stillen. Das Spirituelle wird in all diesen Phänomenen verständlich als eine Serviceleistung für das einerseits sich omnipotent fühlende, andererseits brüchig gewordene Ego. Wir leben, um mit Steiner zu sprechen, in einer vollkommen luziferisierten Welt, mit illusionären Selbstbildern von früh an. Es ist immer schwerer geworden, "Selbstverwirklichung" anders zu verstehen als ein weiteres Element der schnellen Warenwelt, als Konsumartikel, als auch wechselnden Moden unterworfenes Produkt.

Der radikale Bruch, der nötig für das Individuum ist, ist heute sehr viel grundlegender als zu Steiners Zeiten. Es wird nicht zu vermeiden sein, es zumindest vorübergehend als schwer wiegende Identitäts- und Lebenskrise zu durchleben, wenn die Illusion der haftenden Selbstidentifikation real überwunden werden soll. Es wird immer schwerer, sich den Kollektiven zu entziehen und die totale Anspruchshaltung eines regressiven Ego zu beenden. Ansonsten droht eine biografische Regression- eine Fixiertbleiben auf omnipotente und illusionäre Selbstbilder, die auf die Kindheit zurück führen und etwas wie Spiritualität als schmückendes Beiwerk pflegen, nur schwer wandelbar, kaum lern- und dialogfähig sind und weitgehend der boshaften Liedzeile von Randy Newman entsprechen: "He didn´t grow up, he grew out.**"

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*"Perdurabo, Revised and Expanded Edition: The Life of Aleister Crowley" von Richard Kaczynski
** sinngemäß: Er wurde niemals erwachsen, sondern wucherte einfach immer weiter.